Wenn vom Erfolgsrezept der Schweiz die Rede ist, wird von Seiten der Wirtschaft immer gern auf den flexiblen Arbeitsmarkt und die attraktiven Steuern hingewiesen. Umfragen bei Managern internationaler Firmen ergeben aber ein ganz anderes Bild. Genannt werden politische Stabilität und soziales Klima, Bildungssystem und Qualifikation der Arbeitnehmenden sowie Infrastruktur und Versorgungssicherheit. Der gemeinsame Kern dieser Standortvorteile ist, dass Gleichheit mehr zählt als Ungleichheit.
Der Schweiz geht es wirtschaftlich gut. Wir haben eine hohe Beschäftigungsquote, eine der tiefsten Arbeitslosenraten – vor allem auch bei den Jugendlichen – und ein hohes Wohlstandsniveau. Als Gründe für dieses wirtschaftliche Wohlergehen wird von Seiten der Arbeitgeber und der Wirtschaft immer und immer wieder der flexible Arbeitsmarkt, sprich fast kein Kündigungsschutz, sowie attraktive Steuern, sprich sehr tiefe Unternehmenssteuern, vorgebracht. So geht der Direktor des Arbeitgeberverbands in der NZZ sogar soweit, die hohe Erwerbsquote, die guten Löhne und gar das Fehlen von Banlieues und Suburbs in der Schweiz als Folge des flexiblen Arbeitsmarktes hinzustellen.
Auch wenn attraktive Steuern und flexibler Arbeitsmarkt nicht unbedeutend sind, so sind sie zur Erklärung des wirtschaftlichen Erfolgs der Schweiz völlig unzureichend. Ja, sie geben nicht einmal die wichtigsten Standortvorteile der Schweiz wieder. Wer sich allein darauf bezieht, läuft Gefahr, in Bezug auf das wirtschaftliche Erfolgsrezept der Schweiz falsche Schlüsse zu ziehen und das Wesentliche zu übersehen.
Standortvorteile der Schweiz aus Sicht internationaler Firmen
Die Unternehmungsberatungsfirma Ernst & Young führt zu den Standortvorteilen der Schweiz regelmässig Umfragen bei Managern von internationalen Firmen durch. Im Jahr 2011 hat diese Umfrage ergeben, dass die politische Stabilität, die Sicherheit, das soziale Klima, das Bildungssystem und das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte sowie die Versorgungssicherheit und die zuverlässige und gut ausgebaute Infrastruktur die zentralen Standortvorteile der Schweiz darstellen. Die Attraktivität des Steuersystems und die Flexibilität des Arbeitsrechts werden zwar auch genannt, aber eben nicht an erster Stelle, sondern erst unter „ferner liefen“.
Die wichtigsten Standortvorteile der Schweiz sind also nicht der flexible Arbeitsmarkt oder das attraktive Steuersystem, sondern die politische Stabilität, die Sicherheit und das soziale Klima. Aber auch diese Feststellung greift noch zu kurz. Denn politische Stabilität, Sicherheit und das soziale Klima fallen nicht einfach vom Himmel und können auch nicht per Gesetz dekretiert werden.
Gleichheit ist wichtiger als Ungleichheit
Politische Stabilität, Sicherheit und das gute soziale Klima sind vielmehr das Resultat eines gemeinsamen Kerns. Dieser gemeinsame Kern besteht darin, dass in der Schweiz die Gleichheit wichtiger ist als die Ungleichheit. Gerade die Versorgungssicherheit und die Infrastruktur sowie das Bildungssystem, also die weiteren zentralen Standortfaktoren, gehören gemeinsam mit der Lohnstruktur und der sozialen Absicherung zu den zentralen Bereichen, in welchen dieser Grundgedanke zum Ausdruck gebracht wird.
- Wir haben in der Schweiz gute Infrastrukturen im ganzen Land und für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Das gilt für Strassen und öffentlichen Verkehr, für Wasser, Elektrizität, Telekommunikation usw. Es gilt aber auch für die Schulen und Spitäler. In der Schweiz gibt es bis jetzt keine „Gated-Communities“, also abgeschlossene Wohnviertel mit einem Service public der Spitzenklasse, kombiniert mit Vorstädten, in welchen die Infrastruktur bröckelt, so wie das beispielsweise in den USA ausgeprägt der Fall ist.
- Wir haben in der Schweiz eine qualitativ hochstehende Volksschule, die von (fast) allen Kindern besucht wird, egal wie viel ihre Eltern verdienen oder welchen gesellschaftlichen Status sie haben. Das Gleiche gilt für die weiterführende Bildung, und zwar sowohl für die Berufsbildung als auch für die Fachhochschulen und Universitäten. Unsere Bildungsinstitutionen sind vielleicht nicht Weltspitze, dafür alle auf hohem Niveau. Es gibt nicht die guten Privatschulen und die miserablen öffentlichen Schulen, es gibt nicht die Elite-Universitäten und die übrigen Unis, deren Abschlüsse kaum etwas wert sind, so wie das in England oder den USA der Fall ist.
- Wir haben in der Schweiz ein hohes Lohnniveau für breite Schichten der Bevölkerung. Der Anteil der Tieflöhne ist kleiner als in der EU-15 oder in den OECD-Ländern, die Ungleichheit in der Einkommensstruktur im internationalen Vergleich – trotz extremen Ausreissern – moderat. Die soziale Absicherung umfasst in der Schweiz die ganze Bevölkerung und nicht nur privilegierte Gruppen, und in vielen Sozialversicherungen ist die Spreizung des Leistungsniveaus nicht sehr gross. Von der ausgeprägten ökonomischen Schichtung oder den riesigen Unterschieden in der sozialen Absicherung anderer Länder sind wir – noch – weit entfernt.
Die Reihe liesse sich fortsetzen und an vielen weiteren Beispielen zeigen, dass in der Schweiz der Durchschnitt mehr zählt als der Spitzenwert, dass eine insgesamt hohe Qualität wichtiger ist als einzelne Exzellenz, dass ähnliche Bedingungen für alle im Vordergrund stehen und nicht Privilegien für einige wenige.
Gleichheit als Fundament unserer Prosperität
Politische Stabilität, Sicherheit und soziales Klima sind das Resultat dieses Vorrangs der Gleichheit vor der Ungleichheit. Denn der Vorrang der Gleichheit vor der Ungleichheit führt dazu, dass niemand in unserer Gesellschaft definitiv abgehängt wird, dass alle am wirtschaftlichen Erfolg (mehr oder weniger) partizipieren und so insgesamt ein Gefühl der Fairness in und Zusammengehörigkeit zur Gesellschaft entsteht. Der Graben zwischen „denen da oben und wir da unten“ war und ist in der Schweiz weniger stark ausgeprägt als anderswo, das Vertrauen in die „Wirtschaft“ und in die Politik jedoch grösser.
Insofern ist dieser Vorrang der Gleichheit vor der Ungleichheit auch die Grundlage der Konkordanz, der tiefen Regulierungsdichte und der Sozialpartnerschaft, die ebenfalls als Trümpfe der Schweizer Wirtschaft gelten und unser soziales Klima prägen. Zudem hat das Vertrauen lange Zeit extreme Forderungen bzw. extreme Entscheidungen der Bevölkerung in Volksabstimmungen verhindert und damit genau die politische Stabilität ermöglicht, die heute unser wichtigster Standortvorteil ist und zu unserer Prosperität beiträgt.
Von der positiven Dynamik der Gleichheit in die negative Dynamik der Ungleichheit
Lange Zeit haben wir in der Schweiz die positive Dynamik der Gleichheit erlebt. In den letzten Jahren wurde jedoch viel Vertrauen zerstört. Den Anfang machten die oft und unterdessen sogar von bürgerlichen Politikern verurteilten Saläre in der Teppichetage der Unternehmen. Hier wurde das Leistungsprinzip ad absurdum geführt, und es sind Unterschiede entstanden, die die Toleranzgrenze der Schweizer Bevölkerung bei weitem überschreiten.
Aber auch die Politik ist nicht unschuldig. Auch hier wird eifrig und in vielen verschiedenen Lebensbereichen an der Gleichheit gepickelt und für mehr Ungleichheit geworben. In der Sozialpolitik reicht dies vom Abbau der Arbeitslosenversicherung über den Versuch, die BVG-Renten massiv zu senken oder in der IV sogar laufende Renten zu kürzen bis hin zur immer wiederkehrenden Idee der Erhöhung des AHV-Rentenalters. In der Bildungspolitik werden an der Volksschule Lektionen gestrichen und Klassen vergrössert und bei der weiterführenden Bildung der massiven Anhebung der Studiengebühren das Wort geredet. Im Service public wird mit jedem kantonalen Sparpaket das Angebot im öffentlichen Verkehr oder im Gesundheitswesen abgebaut. Der Eindruck, dass da Ungleichheiten geschaffen oder verstärkt werden sollen, wird in breiten Bevölkerungskreisen immer grösser.
Politik und Wirtschaft müssen sich zu Herzen nehmen, dass die positive Dynamik der Gleichheit nicht gottgegeben ist, sondern auch umschlagen kann in eine negative Dynamik der Ungleichheit. Die ersten Anzeichen dafür sind durchaus vorhanden. Die politischen Forderungen werden extremer, die Entscheidungen auch, und zwar sowohl in der Wirtschaft, in der Politik als auch an der Urne.
Sorge tragen zur Schweiz heisst Sorge tragen zur Gleichheit
Wir sind auf dem Weg zu einer Schweiz mit mehr Ungleichheit. Und da tragen auch die von der Wirtschaft immer wieder als Erfolgsfaktor genannte Attraktivität der Steuern und die Flexibilität des Arbeitsmarktes ihren Teil dazu bei. Wenn der flexible Arbeitsmarkt zu Löhnen führt, die nicht zum Leben ausreichen, dann unterminiert diese Flexibilität das soziale Klima und damit längerfristig die politische Stabilität. Wenn die „Attraktivität der Steuern“ zu leeren Kassen der öffentlichen Hand führt, die die Versorgungssicherheit und die flächendeckende Infrastruktur auf hohem Niveau für die ganze Bevölkerung gefährden, dann gefährdet diese „Attraktivität“ aufgrund des gleichen Mechanismus den Wohlstand der Schweiz.
Denn in beiden Fällen ist das Resultat mehr Ungleichheit anstatt mehr Gleichheit. Beide Fälle führen in der Bevölkerung zum Gefühl, dass die Fairness leidet und nicht mehr alle zur gleichen Gesellschaft gehören. Zum Gefühl auch, dass die Privilegierten weiter privilegiert und die Schwachen weiter geschwächt werden sollen. Nur wenn die Wirtschaft den am angelsächsischen Vorbild genährten Ungleichheitswahn hinter sich lässt und die Politik wieder für mehr Ausgleich sorgt, wenn also Politik und Wirtschaft mehr Gleichheit anstatt Ungleichheit wieder als Erfolgsrezept der Schweiz anerkennen, wird die Schweiz wirtschaftlich erfolgreich bleiben.